lingnau geroldZum Tod von Dr. Gerold Lingnau

Von Rolf Heggen

Am 15. April 2017, dem Samstag vor Ostern, ist Dr. Gerold Lingnau nach kurzer schwerer Krankheit gestorben.

Am 6. September 1934 in Frankfurt am Main geboren hatte er schon 1951, nach dem Überspringen zweier Schulklassen, das Abitur am Gymnasium Kronberg/Taunus abgelegt. Von 1952 bis 1957 Studium der Volkswirtschaftslehre an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, das er als Diplom-Volkswirt abschloss. 1960 Promotion mit einer Arbeit über Die Weiterführung des Grenznutzengedankens in der Geldtheorie.

Anfang 1961 trat Lingnau in die Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein, wo die Börse für ein halbes Jahr sein erstes Tätigkeitsfeld war. Dann wechselte er in die Firmenredaktion und redigierte sieben Jahre lang den privatwirtschaftlichen Teil der Zeitung. Während dieser Zeit widmete sich Lingnau aber auch Fragen der Verkehrswirtschaft und des Automobilwesens. Nach dem Tod von Hugo V. Seib übernahm er im März 1973 das Ressort Motor, das 1988 unter dem Titel Technik und Motor auf eine breitere Basis gestellt wurde. 26 Jahre, bis zu seiner Pensionierung 1999, hatte er das Ressort kontinuierlich ausgebaut und ihm weit über die Grenzen Deutschlands zu höchster Reputation verholfen. Als Autor oder Mitverfasser schrieb Lingnau mehr als zwanzig Bücher, die meisten über Autos oder Motorräder. Die Preise und Auszeichnungen für den Redakteur und Autor häuften sich.

Im August 1962 hatte er seine Frau Antje geheiratet. 1966 wurde Sohn Anselm geboren, 1969 kam Sohn Ivo zur Welt. Die Familie lebte in Eppstein-Vockenhausen, wo sich Gerold Lingnau, Mitglied auch im Rotary Club, unter anderem im Vorstand des Verschönerungsvereins beim Thema Denkmalschutz engagierte.

1972 war Lingnau Mitglied im Motor Presse Club geworden. 1986 wurde er mit 100 von 105 Stimmen zum Vorsitzenden des Clubs gewählt. Erstmals war ein FAZ-Redakteur in dieses wohl bedeutendste Ehrenamt im Bereich des Motor-Journalismus berufen worden. „Ich gebe zu: Ein bisschen stolz war ich schon darauf“, schrieb er 1998 in der Jubiläumszeitschrift zum fünfzigjährigen Bestehen des MPC. Sicher wäre er da immer noch allseits hochgeschätzter Club-Präsident gewesen, wenn er nicht 1994, im Alter von nur 60 Jahren, in der ihm stets eigenen Konsequenz verkündet hätte: „Nach acht Jahren Präsidentschaft sollte es genug sein. Man kann nicht Verjüngung predigen und selbst nicht gehen wollen.“ Das aufrichtige Bedauern im Club war allgemein und groß.

Aber natürlich blieb Gerold Lingnau auch als Ehrenmitglied (seit 1995) im MPC stets präsent und aktiv, als Versammlungs- und Wahlleiter bei den Mitgliederversammlungen und vor allem als langjähriger Organisator der traditionsreichen MPC Wandertage. Die Goldene Sohle des MPC, höchste Auszeichnung der Fußläufer im Club, erhielt er 1988. In seiner unvergleichlichen Mischung aus Bescheidenheit, Humor und journalistischem Stil schrieb er dazu in der MPC Chronik: „Das Tüpfelchen auf dem i einer MPC-Karriere.“

Dies mochte ich als Lingnau-Nachnachfolger natürlich so nicht stehen lassen: Für den Abschlussabend der 50. MPC Wandertage 2016 in der Region Saale-Unstrut hatte ich mir im stillen Kämmerlein ein weiteres i-Tüpfelchen ausgedacht, den Goldenen Schuh des MPC für die Organisatoren. „Dass die Wandertage zum fünfzigsten Mal stattfanden, war ja schon erstaunlich genug. Noch ungewöhnlicher, dass in dieser langen Zeit nur vier MPC Mitglieder sie organisiert haben. Drei von ihnen waren in Bad Kösen anwesend: Uwe Gabler, Gerold Lingnau und der amtierende Horst-Dieter Grosse erhielten von Rolf Heggen jeweils einen (von Glasurit) vergoldeten Wanderschuh. Des verstorbenen Gründers und langjährigen Veranstalters Adolf von Keller konnten die Wanderer nur noch still gedenken, mit großer Sympathie“, schrieb Lingnau in seinem Wandertagebuch.

Auch bei den Oldtimer-Ausfahrten des MPC zählte das Team Lingnau/Lingnau zur Stammbesetzung. Ihnen zu Ehren führte die 10. MPC Classic-Tour 2014 auch durch das idyllische Taunusstädtchen Eppstein, und dort auf einem steilen kurvenreichen einspurigen Weg zum „Kaisertempel“, der 1894 vom Verschönerungsverein Eppstein im Gedenken an Kaiser Wilhelm I. und die Reichsgründung 1871 errichtet worden war, in wunderbarer Aussichtslage. Gerold Lingnau, quasi Hausherr im Tempel, bewies auch bei diesem Anlass sein erzählerisches launiges Talent und berichtete dann wieder mitreißend im MPC Magazin über die Erlebnisse bei dieser „Ausfahrt zu Lande, zu Wasser und in der Luft“ zwischen Taunus-Höhen und Rheingau.

Bei einer ebenfalls 2014 neu erdachten MPC Auszeichnung, der Goldenen Feder des MPC für Beiträge im MPC Magazin, konnte es natürlich nicht ausbleiben, dass Gerold Lingnau zu den ersten Preisträgern zählte. FAZ-Kollege Wolfgang Peters – mein Nachfolger seit 1982 in der Motor-Redaktion und Lingnaus Nachfolger als Ressortchef (2000 bis 2011) – schrieb in der Laudatio unter dem Titel „Hingabe – im Leben und Schreiben“ unter anderem: „Lingnau ist in hohem Maße ein intelligenter Individualist, konsequenter Verfolger seiner eigenen Gedankengänge und seiner Linien im Leben und Schreiben. Li. verfügt über die Kraft der völligen schreiberischen Konzentration und der kompletten Hingabe an seine Aufgabe. Für den MPC hat es sich als positiv erwiesen, dass Li. ihn nie als Verein interpretierte. Er sieht ihn noch immer – und vielleicht noch stärker als je zuvor – als Club, als eine Art von freundschaftlicher Gruppe, die sich über gemeinsame Merkmale und Interessen definiert und für die er gerne zur Feder greift. Das hat Li. in etlichen wunderbaren Essays, kurzen Notizen zu Einladungen und Terminen und zu mannigfaltigen Ehrungen verdienter Mitglieder bewiesen.“

Gerold Lingnau, bis zu seinem Sturz mit Beckenbruch im vorigen Jahr, unverändert und unablässig beruflich und ehrenamtlich aktiv, engagiert, konzentriert, unternehmungsfreudig, loyal, hilfsbereit, authentisch, wird in erster Linie natürlich seiner Familie mit Ehefrau, Kindern und Enkelkindern auf sehr, sehr schmerzliche Weise fehlen. Aber er wird auch in seiner zweiten Familie, dem MPC, vielfältigst vermisst werden. Wir alle haben ihm unendlich viel zu verdanken. Und ich persönlich, wenn ich das anfügen darf, ganz besonders: Gerold Lingnau hat mir 1979 den Weg von der Sport- in die Wirtschafts-/Motorredaktion und schließlich in die Magazin-Redaktion der FAZ geebnet, er hat mich als seinen Nachfolger als Sprecher des Beobachterkreises Automobilwerbung, einer Initiative des VDA und VDIK, vorgeschlagen, und er hat mir gut zugeredet, als mir 2010 – in nicht ganz leichten Zeiten – der Vorsitz im MPC angetragen wurde. Wir waren, auf den Tag genau, zehn Lebensjahre auseinander. Und wir hatten einen langjährigen kleinen Wettbewerb der Ehre: Wer ruft wen am 6. September zuerst an? Gerold war auch hier meistens der Erste.


Nicht wirklich ein Nachruf.

Aber jede Menge Erinnerungen an Fußball, Dampfmaschinen und eine Liste, die nur einer wirklich liebte.
Über die unerhörte, selbstbewusste Bescheidenheit von Li.

Von Wolfgang Peters

Als Lingnau, den Ball am Fuß, mit einer gewissen Ungelenkigkeit auf mich zulief, war ich Verteidiger, und zu langsam, aber ich holte ihn ein, trat ihm ungeschickt in die Ferse, dass sein Schuh davonflog. Aber er hat nicht mal gezuckt, nur ein paar Tage ganz leicht gehumpelt, und ich hatte im Arbeitsalltag keine Gelegenheit mehr, mich für das Foul auf der Bertramswiese vor dem Hessischen Rundfunk in Frankfurt zu entschuldigen.

Das war vor rund vierzig Jahren, und ein paar Kerle von der FAZ spielten an jedem Mittwoch von 8 bis 10 dort ein bisschen Fußball. Junge und schon ältere Kollegen, Gerold Lingnau war auch dabei, immer mal wieder. Nicht, weil er begeistert war vom Fußball, sondern weil er glaubte, er sollte da mal mitmachen. Ich war dabei, weil ich mich mit ihm über Autos unterhalten wollte. Ich wollte weg von meinem langweiligen Posten in der Lokalredaktion und Lingnau war mit seinen „Motor“-Seiten schon damals der beste Automann, den die FAZ je hatte. Er war in der Redaktionshierarchie weit weg von mir, dennoch ansprechbar und auf dem Weg zur lebenden Legende, ich habe später von ihm gelernt, habe bei ihm geschrieben, bin mit ihm gefahren, habe gefeiert, mich über ihn geärgert und ihn bewundert. Jetzt ist Gerold Lingnau im Alter von 82 Jahren gestorben.

Und ich kann mich nicht mehr wegen des Angriffs auf seine Ferse entschuldigen: Es tut mir leid, Li., aber ich wollte nur den Ball.

Immerhin konnte ich mich dann noch fast vierzig Jahre mit ihm über Autos unterhalten. Was haben wir über krummes Design gelacht, über mobile Eigenarten die Köpfe geschüttelt und uns über Technik ausgetauscht. Im „Motor“ und später in „Technik und Motor“ war immer Gesprächsbedarf.

Von Haus aus war Lingnau ja promovierter Ökonom, seine Methode des Herangehens an neue Autos war immer eine ökonomische, eine Frage der Vernunft, dennoch war er mitunter überwältigt von der Schönheit eines Autos. Schiere Leistung aus riesigen Hubräumen ließ ihn mit den Achseln zucken, er rechnete gerne an den Motoren und an den Platzverhältnissen herum, erfand eine rational-faktische Bewertungsliste der Autos, mit der man im Ausschlussverfahren zu dem persönlich richtigen Vehikel finden konnte. Das war dann ausklügelt bis in die fünfte Kommastelle, aber man traf nicht das faszinierendste, sondern das berechenbarste Automobil damit.

Lingnau verfolgte unbeirrt diesen Weg zum Auto und er liebte diese, seine mehrseitige Zeitungs-Tabelle wie einen behinderten Hund. Darüber hatten wir uns für sehr kurze Zeit ein wenig zerstritten, aber bald war es wieder gut. Weil Lingnau immer mit Fehlern – auch mit möglichen, eigenen – rechnete, arbeitete er penibel wie kein anderer. Von Engelbert Männer, einst arbeitswütiger mot-Chef, kommt das Wort, Lingnau sei der zuverlässigste Autojournalist in diesem Land. Davon hat das ganze Technik-Ressort in der FAZ profitiert, keiner war besser in der Durchdringung technischer Vorgänge, keiner konnte komplizierte Dinge einfacher und verständiger darstellen. Und diese mit Mühen verbundene Arbeitsweise sprang über auf die gesamte Redaktion.

Zu einem runden Geburtstag hatten mir Lingnau und die Redaktion eine echte, kleine Dampfmaschine geschenkt. Wir probierten sie aus, und er war der erste, der im Büro auf dem Teppichboden lag, um die Arbeitsweise des Kraftmaschinchens genau beobachten zu können. Er war einfach daran interessiert, was die Technik im Innersten zusammenhält.

Anerkennung wurde ihm in großen Mengen zuteil. Diese erfreuten ihn zwar, aber er renommierte nie mit seinem unglaublichen Gedächtnis, trat lieber bei Belobigungen einen Schritt zurück, und vermied jeglichen besserwisserischen Auftritt. Da nahm er mich in den Anfangsjahren mitunter beiseite und sagte zum Beispiel im Stillen, wenn ein Motor im fünften Gang bei 100 km/h mit 2000/min Touren läuft, dann könnten es bei 200 km/h im fünften Gang nicht 3500/min sein, ich verstand, und merkte es mir.

Seine Führung war das leise Vorbild und seine Begeisterung über gut gelungene Geschichten der Mitarbeiter brach sich mitunter Bahn, allerdings seltener, als es sich die Redaktion gewünscht hatte. Vielleicht hinderte ihn seine tief verwurzelte Bescheidenheit davor, sich mit lobenden Worten nach vorne zu drängen. Im Auto schätzte er eher die pragmatische Technik als den fulminanten Auftritt, wozu sollten fünf Gänge gut sein, wenn drei genügten, bei diesem Drehmoment? Seine Privat- und Dienstwagen waren eher magere Vehikel vom Schlage eines Renault R12 und es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, mich vom Prüfen eines der damaligen Knallerautos wie Porsche 928 GT oder BMW 635 CSi zu seinen Gunsten abbringen zu wollen. Daraus sind mit Lingnaus Hilfe einige gute Geschichten entstanden.

Im MPC hatte er seine Autorität und sein Bewusstsein über die politische Rolle zur Profilierung des Clubs und – ganz wichtig – zur Aufbesserung der Rolle des Motorjournalisten einzusetzen gewusst.

Ein besonderer Fußballer war Lingnau dagegen nie gewesen. Aber er war der rundum beste Motorjournalist seiner Zeit in diesem Land.

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